In einer Welt, die scheinbar mehr auf Eierschalen wandelt als auf festem Boden, haben sich Betroffenheit und Empfindlichkeit zu den heißesten Trends unserer Zeit gemausert. Ein Schulterzucken kann heutzutage schon als Akt der schweren Körperverletzung angesehen werden, und ein zufälliger Augenkontakt wird von den supersensiblen Seelen als persönliche Provokation gewertet. Es ist, als ob wir alle Mitglieder eines Clubs für hauchdünne Gemüter geworden sind.
Was früher ein lustiger Scherz war, landet heute wie eine Granate in einem Minenfeld der Verletzlichkeit. Ein lockerer Spruch, der einst lautes Gelächter hervorrief, wird nun mit hochgezogenen Augenbrauen und empörtem Tuscheln quittiert. Anscheinend haben wir unsere humoristischen Antennen verloren und jeden Witz in eine tickende Zeitbombe verwandelt.
Schon Goethe kannte und nannte „die Aufgeregten“ als jene, die im stürmischen Tanz der Emotionen gefangen sind, deren Worte wie Blitze hervorschießen und die im Shitstorm der Leidenschaften die Besonnenheit verlieren.
In der allzu menschlich menschlichen Natur bleiben sie ein zeitloses Phänomen, das dennoch stets einen Platz im sozialen Panorama einnimmt.
Der Ursprung der heutigen Überempfindlichkeits-Welle liegt vermutlich in der Kultur der politischen Korrektheit. Ein unbedachtes Wort kann heute schneller zur sozialen Verbannung führen als ein schlechtsitzendes Toupet. Niemand möchte das Risiko eingehen, als Außenseiter im Club der politisch Korrekten zu enden. So bewegen wir uns in einem permanenten Zustand der Vorsicht, ja geradezu der Panik, in Verdacht und soziale Ächtung zu geraten, und das Resultat ist Überempfindlichkeit.
Der galoppierende Einfluss der sozialen Medien auf diese Empfindlichkeits-Epidemie ist unübersehbar. Unter Decknamen verborgen, spielen sich Menschen im Internet als tragische Märtyrer auf. Die Ära der Keyboard-Krieger ist angebrochen: Mit der Tastatur als Schwert kämpfen sie mutig gegen die vermeintlichen Drachen der Ungerechtigkeit. Oder zumindest gegen Meinungen, die nicht im Einklang mit ihrer eigenen Blase schwingen. Und ist der Shitstorm erstmal entfesselt, bricht ein Orkan der Empörung über den vermeintlich verachtenswerten Übeltäter.
Doch wie wollen wir in einer Welt, in der das Gleichgewicht schon durch den Hauch einer Unannehmlichkeit gestört wird, echte Herausforderungen bewältigen? Wenn schon der flüchtigste Windstoß als Frontalangriff interpretiert wird, wie sollen wir dann standhaft bleiben, wenn uns wirklich heftige Stürme ins Gesicht peitschen? Wie können wir als Einzelne unseren Standpunkt -sei er auch noch so kontrovers vertreten, ohne gleich zur Persona non grata zu werden. Wie können wir als Gesellschaft wachsen, wenn wir uns ständig in der schützenden Blase der Verletzlichkeit verstecken?
Es wird Zeit, dass wir der Überempfindlichkeit den Kampf ansagen; unserer eigenen und der anderer. Wir müssen wieder den Mut aufbringen, uns mit einer gesunden Dosis Gelassenheit und Humor zu umgeben. Lasst uns den Überschuss an Empfindlichkeit abschütteln und uns auf die Bewältigung wahrhaftiger Probleme fokussieren. Tauschen wir Argumente aus, statt Verdächtigungen und
lasst uns zu einer Gesellschaft der Stärke und Zähigkeit heranwachsen, in der wir echte Diskussionen führen können, ohne uns vor imaginären Kränkungen zu ängstigen. Wir sollten den Mut finden, unterschiedliche Ansichten zu akzeptieren, ohne gleich in die Ecke der Beleidigten zu schlüpfen.
Der andere ist anders – aber nicht dein Feind! Erinnern wir uns daran, während wir den Dialog erneut entfachen und den Diskurs beleben. Die Gesellschaft kann nur davon profitieren, wenn wir uns aus den Fängen der überzogenen Empfindsamkeit lösen. Jetzt ist die Zeit gekommen, auf die Grundlage der Vernunft zurückzugreifen, um mündig und mutig, auch streitbar, widerstreitende Meinungen, Ansichten, Argumente auszutauschen um. Indem wir dies tun, werfen wir den Ballast von Vorurteilen und Vorverurteilungen und Stigmatisierungen ab. Die Ketten der Überempfindlichkeit müssen wir hinter uns lassen, um unser volles Potenzial als Individuum und letztlich als Gesellschaft zu befreien.